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Befahren von Autobahnen und Autostrassen bei Lernfahrten

Wann dürfen Lernfahrende die Autobahn oder Autostrasse benutzen? Mit dieser Frage wurde bereits jede Fahrlehrerin und jeder Fahrlehrer mehrfach konfrontiert. Für viele ist es schwer, darauf eine klare, korrekte und in der Praxis anwendbare Antwort zu geben. Um Licht ins Dunkel zu bringen, hat das FL-Magazin beim ASTRA nachgefragt und mit der Kantonspolizei St. Gallen ein Interview geführt.

Verunsicherung bei Fahrschülern, Eltern und Fahrschulen
Ein Beispiel eines Motorrad-Lernfahrers aus einem Forum: «Ich habe ein Riesenproblem, ich hoffe, jemand kann mir helfen. Ich bin Kochlehrling und der schnellste Weg zur Arbeit führt über die Autobahn, die ich bereits befahren habe. Den Grundkurs kann ich erst in einer Woche besuchen. Im Uetliberg-Tunnel war heute eine Grosskontrolle. Die Kantonspolizei hat mich kontrolliert und gesagt, ich dürfe die Autobahn nicht benutzen, weil ich noch nicht prüfungsreif sei. Es gebe eine Anzeige.» Wie präsentiert sich nun wirklich die Gesetzeslage?

Definition von Prüfungsreife
Der Teufel liegt wie bei manchen anderen Dingen bekanntlich im Detail. Dies auch bezüglich Punkt 4 von Art. 27 VRV. Der Begriff «prüfungsreif» ist irreführend und in der Praxis nicht anwendbar. Regelmässig treffen bei Fahrlehrerverbänden und Fahrlehrer:innen Anfragen von Privatpersonen ein, die sich darüber erkundigen, wann eine Person mit gültigem Lernfahrausweis der Kategorie B und insbesondere A1 125 ccm (ab 16 Jahren) Autobahnen und Autostrassen benutzen dürfen.
In der jahrelangen Handhabung bei den Fahrschulen wurde Prüfungsreife mit fortgeschrittenem Ausbildungsstadium definiert. Doch was bedeutet das genau? Ist eine Anmeldung zur Führerprüfung oder das Absolvieren der Lektion «Autobahn» relevant, um die Prüfungsreife zu erfüllen oder das fortgeschrittene Ausbildungsstadium zu erreichen?
Als problematisch zeigt sich die Autobahnbenutzung der Kategorie A1 125 ccm ab 16 Jahren, da in der obligatorischen Praktischen Grundschulung (PGS) das Thema Autobahn nicht behandelt wird. Viele junge Motorradfahrende fragen, ob sie nach dem Abschluss des Grundkurses auch Autobahnen oder Autostrassen benutzen dürfen.
Laut Birgit Mosler, Rechtsanwältin des ASTRA, darf Autobahnen und Autostrassen erst benützen, wer den Lernfahrausweis besitzt und prüfungsreif ist. Das regelt Artikel 27 Absatz 4 VRV. Prüfungsreif bedeutet: Die Fahrschülerin oder der Fahrschüler ist so weit ausgebildet, dass sie oder er eine gute Chance besitzt, die praktische Führerprüfung zu bestehen. Nach Interpretation des ASTRA ist dies der Fall, wenn jemand für die praktische Führerprüfung angemeldet ist. Bei der PGS handelt es sich um eine Grundschulung. Dieser folgt gemäss dem neuen Fahrlehrer-Handbuch für die praktische Fahrausbildung Kategorie A noch die Haupt- und Perfektionsschulung. Erst in Letzterer ist das Fahren auf Autobahnen und Autostrassen vorgesehen. Es ist Sache des Fahrlehrers oder der Begleitperson, im Einzelfall zu beurteilen, ob diese Prüfungsreife vorliegt. Dass eine Haupt- und Perfektionsschulung bei einer Motorradausbildung vorgesehen ist, ist zu begrüssen. Doch wird diese in der Praxis, insbesondere bei der Kat. A1 16 Jahre, nur in sehr wenigen Fällen auch besucht. Die allermeisten Lernfahrer:innen der Kat. A1 16 Jahre melden sich nach dem Besuch des Grundkurses selber zur Prüfung an oder werden vom Fahrlehrer angemeldet, ohne eine weitere Schulung zu besuchen, da diese nicht obligatorisch ist. Mit der Anmeldung zur Führerprüfung hat sich beim Lernfahrer somit nichts zum Thema Fahrkompetenz auf der Autobahn geändert. Deshalb ist die Definition, dass die Prüfungsreife (nach Artikel 27 Abs. 4 VRV) mit der Prüfungsanmeldung erreicht wird und eine Berechtigung zum Befahren von Autobahn und Autostrasse zur Folge hat, nicht geeignet.

Gesetzlich klare Regelung mit unklarer Definition
Art. 27 VRV (Art. 15 SVG)
1 Solange Motorfahrzeuge von Inhabern eines Lernfahrausweises geführt werden, müssen sie auf der Rückseite an gut sichtbarer Stelle eine blaue Tafel mit weissem «L» tragen. Die Tafel ist zu entfernen, wenn keine Lernfahrt stattfindet.
2 Auf Lern- und Prüfungsfahrten mit Motorwagen muss der Begleiter neben dem Führer Platz nehmen, ausgenommen auf Übungsplätzen, beim Rückwärtsfahren oder beim Parkieren; der Begleiter muss wenigstens die Handbremse leicht erreichen können.
3 Der Inhaber eines Lernfahrausweises darf auf Motorrädern sowie auf oder in anderen Motorfahrzeugen, mit welchen er Lernfahrten ohne Begleitperson ausführen darf, keine Passagiere mitführen, die nicht selber über den entsprechenden Führerausweis verfügen.
4 Fahrschüler dürfen verkehrsreiche Strassen erst befahren, wenn sie genügend ausgebildet sind, Autobahnen und Autostrassen erst, wenn sie prüfungsreif sind.
5 Auf verkehrsreichen Strassen sind Anfahren in Steigungen, Wenden, Rückwärtsfahren und ähnliche Übungen untersagt, in Wohngebieten sind sie möglichst zu vermeiden.
6 Auf Lern- und Prüfungsfahrten darf auch dann längere Strecken rückwärtsgefahren werden, wenn das Weiterfahren oder Wenden möglich ist.

Paradoxe Situationen
Die Prüfungsreife von einer Anmeldung zur Führerprüfung abhängig zu machen, wirft viele Fragen auf und würde in der Praxis zu paradoxen Situationen führen. Folgende nicht abschliessende Beispiele zeigen dies auf:

a) Ausbildung Kat. B
Fahrlehrer dürften mit Lernfahrenden die Autobahn oder Autostrasse nur benutzen, wenn diese zur Führerprüfung angemeldet sind, ausser es gäbe bei Fahrlehrern eine gesetzliche Ausnahme. Was nicht der Fall ist! Zudem sollen Sie Fahrschüler nur dann zur Führerprüfung anmelden, wenn die Fahrausbildung abgeschlossen ist – ein Teufelskreis. Insbesondere beim Fahren ab 17 Jahren wäre es für Fahrlehrer und private Begleitpersonen nicht möglich, das Fahren auf Autobahn und Autostrasse vor einer Prüfungsanmeldung zu üben. Was ja nicht der Sinn der begleiteten Übungsfahrten ist.

b) Polizei
Bei einer Verkehrskontrolle auf der Autobahn oder Autostrasse durch die Polizei müssten alle Lernfahrenden auf Auto oder Motorrad nachweisen können, dass sie zur Führerprüfung angemeldet sind. Andernfalls müssten sie verzeigt werden, was in der Praxis kaum umzusetzen ist.

c) Ausbildung Motorrad A1–A35 kW
Insbesondere bei der Kat. A1 16 Jahre, deren Lernfahrende keine Erfahrung aus einer anderen Kategorie zum Thema Autobahn und Autostrasse mitbringen und Autobahnen und Autostrassen ohne Begleitperson benutzen dürfen, ändert diese Definition der Prüfungsreife nichts an den mangelnden Fertigkeiten zum Fahren auf Autobahn und Autostrasse.

Aus Diskussionen in Fachkreisen geht hervor,dass der Begriff «Prüfungsreife» vom ASTRA zumindest sinngemäss folgendermassen definiert werden sollte:
Der Begriff «Prüfungsreife» nach Art. 27 Abs. 4 VRV bedeutet: Die Lernfahrenden müssen durch einen Fahrlehrer, eine Fahrlehrerin oder durch eine Begleitperson, die mindestens 23 Jahre alt ist und seit mindestens drei Jahren im Besitze des Führerausweises ist, der nicht mehr auf Probe ausgestellt wurde, über den vollen Ausbildungsinhalt der Lektionen Autobahn und Autostrasse instruiert/ausgebildet worden sein, um Autobahn und Autostrasse zu benutzen. Eine «Nachweispflicht» der Instruktion/Ausbildung erscheint sinnvoll.

L-drive Schweiz steht hinter Praxisänderung - ASTRA will neue Praxis prüfen
Fakt ist: Prüfungsreife durch eine Prüfungsanmeldung zu definieren, ist in der Praxis weder sinnvoll noch durchführbar. Angesichts der offensichtlichen Widersprüche unterstützt L-drive Schweiz diese Sicht. Lernfahrende sollen Autobahnen und Autostrassen in Begleitung befahren dürfen, wenn sie die Hauptschulung abgeschlossen haben.
Vom ASTRA erhofft man sich jetzt eine entsprechend praktikable Lösung. Das ASTRA meldet, es habe die Einwände zur Kenntnis genommen und werde im Rahmen eines nächsten Revisionsprojekts prüfen, ob in dieser Frage ein Rechtsänderungsbedarf besteht.


Interview

Das FL-Magazin hat zusätzlich bei der Kantonspolizei nachgefragt. Marco Gartmann, Leiter Fachdienst Verkehr der Kantonspolizei St. Gallen, beantwortete folgende Fragen:

FL-Magazin: Ist der Kapo die Problematik betreffend Prüfungsreife nach Art. 27 Abs. 4 bekannt?
Marco Gartmann: Der Gesetzgeber definiert,wer in welchem Stadium der Ausbildung die Autobahn befahren darf. Er beschreibt die Prüfungsreife damit, dass die Fahrschülerin oder der Fahrschüler so weit ausgebildet sein muss, dass sie oder er eine gute Chance besitzt, die praktische Führerprüfung zu bestehen. Diese Argumentation hat die Kantonspolizei St. Gallen bis anhin noch nicht vor Herausforderungen gestellt. Insbesondere wurde nicht aktiv kontrolliert, sofern die Polizisten kein entsprechend auffälliges Fahrverhalten feststellten.

FL-Magazin: Wie geht die Kapo St. Gallen mit dem Thema Befahren von Autobahnen und Autostrassen bei Lernfahrten in der Praxis um?
Marco Gartmann: Bei einem Unfall hat die Polizei den Auftrag, für die Staatsanwaltschaft unfallrelevante Fakten zu eruieren. Nebst der Fahrfähigkeit der Unfallbeteiligten kann in einer weiteren Abklärung auch die Fahrkompetenz ermittelt werden: zum Beispiel die Anzahl Fahrstunden, die Fähigkeit, Risikosituationen zu beurteilen usw. Für die Kantonspolizei St. Gallen ist die Fahrkompetenz relevant. Anhand dieser entscheiden wir über das weitere polizeiliche Vorgehen.

FL-Magazin: Wie ist es bei einer Grosskontrolle auf Autobahnen und Autostrassen: Muss ein Lernfahrer, der noch nicht zur Prüfung angemeldet ist, mit einer Anzeige rechnen?
Marco Gartmann: Ja, grundsätzlich ist mit einer Anzeige zu rechnen, da wir uns an die Formulierung des Gesetzgebers halten. Entscheidend ist, wie erwähnt, der Stand der Ausbildung mit dem damit verbundenen Niveau der Fahrkompetenz. Hier ist aber zu erwähnen, dass die Kantonspolizei St. Gallen nicht aktiv entsprechende Kontrollen in Bezug auf die Lernfahrten macht, vorausgesetzt, das Fahrverhalten ist nicht auffällig. Bei einem Unfall wird der Stand der Ausbildung in jedem Fall abgeklärt.

FL-Magazin: Fahrschulen und Begleitpersonen befinden sich, wie der Bericht erwähnt, in einer paradoxen Situation. Zudem haben wir Lernende der Kat. A1 ab 16 Jahren, die ohne Begleitpersonen und ohne Kenntnisse über das Befahren von Autobahnen und Autostrassen nach einer Prüfungsanmeldung legal die Autobahn benutzen dürfen. Was sagen Sie dazu?
Marco Gartmann: Die Kantonspolizei muss ihren Auftrag nach den Richtlinien der geltenden Gesetze und Verordnungen erfüllen. Das ASTRA prüft im Rahmen ihrer Revisionsprojekte ständig, ob Rechtsänderungsbedarf besteht, so auch in diesem Fall. Die Kantonspolizei St. Gallen überprüft in seltenen Fällen bei Lernfahrten auf der Autobahn die Fahrkompetenz der Fahrschülerinnen und Fahrschüler. Diese ist ausschlaggebend für eine allfällige Anzeige an die zuständige Untersuchungsbehörde.

 

Online-Veröffentlichung: 15.12.2022
Beitrag: Ravaldo Guerrini
Quelle: ASTRA